Zuckerfest in Malaysia.
Kepala Batas, Kedah, Malaysia 2013
Vor vier Jahren habe ich meinen alten Freund Apit zum letzten Mal gesehen. Damals war er zu meiner Abschiedsparty in Bremen gekommen und ich bin Tags darauf nach Mexiko geflogen. In Deutschland habe ich Apit hin und wieder durch die wilde Bürokratie gewiesen, und versucht, ihm seltsame Bräuche wie Grünkohltouren, Trinksprüche und Pünktlichkeit verständlich zu machen. Nun war er an der Reihe, mir sein Heimatsland vorzustellen.
Roberto und ich verkürzen die Wartezeit an der Grenze mit einem Duty Free Bier und etwas Obst. Als Apit ankommt, kaue ich noch auf einer Rambutan herum. „Auch?“ frage ich mit vollem Mund und halte ihm die Tüte hin. Apit winkt ab. Natürlich nicht! Apit fastet! Das habe ich in der Aufregung ganz vergessen, und nun esse ich ihm ganz unsensibel einen vor. Ich komme mir reichlich blöd vor.
Als wir ankommen geht die Sonne unter und Apit gießt sich genüsslich sein erstes Glas Saft ein. Zwei Tage würde er noch fasten, dann ist Ramadan zu Ende und die ganze Familie würde das Zuckerfest feiern. „Bediene dich in der Küche“, sagt Apit, „Auch morgen wenn du magst“, fügt er zwinkernd hinzu.
Doch Roberto und ich wissen, dass die ganze Familie fastet, also beschließen wir spontan, mitzufasten.
Das erste Frühstück verschlafe ich. Noch vor Sonnenaufgang aufzustehen ist mir dann doch eine Spur zu früh. Ich bin so kaputt von der Reise dass ich bin mittags ausschlafe. Klasse, denke ich mir, nur noch ein halber Tag übrig. Das kann ja nicht so schwer werden.
Nur eine Stunde später wird mir klar, wie falsch ich liege. Ich brauche keinen Kaffee und ich komme auch gut ohne Frühstück aus, aber wenn ich Durst habe, hört der Spaß auf. Apit hält mich auf Trab und lenkt mich von Hunger und Durst ab. Es hilft mir sehr, dass auch um mich herum niemand isst, raucht und trinkt.
In der Küche helfe ich Apits Mutter mit den Vorbereitungen für den großen Tag. Sechs Kinder, zwei Enkel und jede Menge Brüder, Schwestern, Cousins und angeheiratete Familie gab es zu bekochen. Apits Mutter verlässt die Küche tagelang nur im Notfall. Doch immer schallt Lachen durchs Haus, denn eine ältere Nachbarin und der jüngste Sohn Afif helfen bei den Vorbereitungen. Ich hacke Zwiebeln, schneide Gemüse, falte Palmblätter und rühre Teig.
Am meisten Spaß macht der Teig, denn für die traditionelle Süßigkeit Dodol muss die ganze Familie helfen. Der Teig, bestehend aus Kokosmilch, Reismehl und Palmzucker, muss viele Stunden lang in einem riesigen Wok gekocht und permanent gerührt werden. Anfangs ist er sehr klebrig, doch mit jeder Stunde wird er etwas fester. Daher ist das Rühren so anstrengend, dass sich alle abwechseln müssen. Ich lausche dem Stimmenwirrwarr und versuche hier und da ein Wort herauszuhören das ich kenne.
Apits Mutter und die Geschwister rühren bis Sonnenuntergang keinen Krümel an. Nur alte und schwache, schwangere, kranke, stillende und reisende Menschen dürfen das das Fasten sein lassen wenn sie möchten. Den ganzen Tag mit Hunger und Durst in der Küche zu stehen muss sehr viel Willenskraft erfordern und ich bewundere die Familie dafür sehr.
Die Vorbereitung der Ketupat Daun Palas (Klebreis in Palnblätter gewickelt) sieht recht einfach aus und ich versuche mein Glück. Man nehme ein Blatt und falte es so, dass es ein stabiles Dreieck ergibt. Apits Mutter und die Nachbarin falten Blatt für Blatt ohne auch nur hinzusehen. Eines sieht aus wie der Klon des Anderen. Sie lachen und quatschen und haben nebenher Töpfe und Kleinkinder im Blick. Ich hingegen sitze mit meinem Palmblatt völlig verloren auf dem Boden und versuche, die Faltbewegungen der beiden zu kopieren, doch sie falten ihre Palmblätter in einer Geschwindigkeit, dass mir hören und sehen vergeht.
Immer wieder erklären mir die beiden die richtige Faltbewegung, dennoch sehen meine Dreiecke sehr asymmetrisch aus und fallen auseinander wenn sie angehoben werden.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang wird der Durst schlimmer und als der Muezzin draußen singt sitzen wir schon mit einem großen Glas voll Wasser am Tisch. Los geht’s!, denken wir uns und stopfen hinein was Platz hat. Roberto und ich sprechen kaum ein Wort, wir kauen permanent und futtern als gäbe es kein Morgen. Apit und seine Familie hingegen essen eher appetitlos. Ein kleines Tellerchen hier, ein Schlückchen Saft da. Hat denen denn der Tag gar nichts ausgemacht? Nun verstehe ich, warm die ganze Familie so schlank ist.
Apits Vater und seine Freunde fragen immer wieder, ob wir denn noch fasten. „Türlich“, presse ich mit vollem Mund heraus. Zur Antwort nicken sie anerkennend. Also wirklich, glauben die denn, dass wir so einfach aufgeben?
Tag zwei ist etwas leichter, denn diesmal frühstücke auch ich. Apit, seine Mutter, Schwester und Bruder essen langsam und mit halb geschlossenen Augen. Ich hingegen bin aufgedreht und quassle ununterbrochen. Für die ist es das dreißigste Frühstück vor Sonnenaufgang in diesem Jahr, für mich das erste. Ich nutze die Situation aus und versuche es der Familie gleich zu tun und mit den Händen zu essen. Am Ende klebt mehr Essen in Gesicht und an den Händen, als im Bauch gelandet ist, aber niemand lacht über meine tollpatschigen Essversuche. Im Gegenteil – sie sind alle froh zu sehen, wie ich versuche, mich an ihre Kultur anzupassen.
Wir verbringen den Tag mit den letzten Vorbereitungen. Die Geschwister machen das ganze Haus sauber während die Mutter noch mehr Kekse backt und Gerichte kocht. Wer soll das alles nur essen?
Abends hat Apit eine Überraschung für uns geplant. Wir werden von Kopf bis Fuß in traditionelle Zuckerfestkleidung aus Leinen aus dem Familiengeschäft Busana Azzahra gesteckt. Der Sarong steht Roberto gut, doch er muss sich erst noch daran gewöhnen, einen Rock zu tragen.
Die meisten Leute um uns herum tragen Jeans und T-Shirt. Übertreiben wir es vielleicht ein wenig?
Nein, ganz und gar nicht. Als wir am nächsten Morgen das Wohnzimmer betreten empfängt uns die ganze Familie in kunterbunten wunderschönen Leinengewändern. Ich grinse ununterbrochen. Für die Familie ist es unwichtig, dass wir nur zwei Tage gefastet haben, keine Familienmitglieder sind und nicht einmal Muslims. Sie alle grinsen mit mir und freuen sich, dass die ganze Familie und so viele Freunde da sind. Mich umgibt ein heimeliges, wohliges Gefühl, eine Geborgenheit, wie ich sie sonst vielleicht an Weihnachten fühle.
Zuckerfestmusik schallt schon seit Tagen aus dem Fernseher und jedem Geschäft, es duftet nach Keksen und Köstlichkeiten und die Kinder lachen und spielen mit den Geschenken, die die Verwandtschaft mitgebracht hat.
Alle haben sich den großen Tag wohl verdient, 30 Tage lang haben sie gefastet. Wir machen haufenweise Fotos und fühlen uns akzeptiert als wären wir ein Teil der Familie.
Als die ersten Kinder kommen, werde ich zur Tür geschickt und Geld zu verteilen. Am Vorabend haben wir gemeinsam kleine Scheine in bunte Umschläge gesteckt, die heute an Nachbarskinder verteilt werden. „Erst die Hände schütteln“, erinnert mich Apit „und dann verteilst du das Geld“. Ich strecke dem ersten Mädchen meine Hand hin und bin ganz überrascht, als es sie nimmt und küsst. In Malaysia werden die Älteren mit viel Respekt behandelt und für die Kinder gehöre auch ich zu den Älteren. In Malaysia wird man im Alter niemals als alte verrückte Schrulle belacht sondern als Ehrenperson bewundert. Gleichaltrige schütteln sich die Hände.
Im Laufe des Tages versuche ich, das System des Händeschüttelns in Verbindung mit Alter und Status zu verstehen, doch es stellt sich als viel zu komplex heraus. Wenn jemand zehn oder zwanzig Jahre älter ist als ich, aber der Schwager oder Cousin eines Freundes, bekommt er dann einen Handkuss oder Handschlag? Kann eine Umarmung auch zwischen Männern und Frauen stattfinden? Was ist der Unterschied zwischen einem Handkuss und dem „Drücker“ (die Hand des Anderen gegen die eigene Stirn drücken)?
Während ich da stehe, dämlich grinse und die anderen beim Hände drücken, küssen und schütteln zusehe, kommen jede Menge Leute auf mich zu, fragen nach meinen ersten Faste-Erfahrungen, nach unserer Reise und wie mir Malaysia gefällt. Ich bin immer noch verunsichert und versuche, allen mit Respekt entgegenzukommen, sie haben mich so gut behandelt und ich möchte sie nicht versehentlich beleidigen.
Nachmittags gehen wir die Familien von Apits Freunden besuchen. Es gibt noch mehr Essen und Kekse und auf dem Weg zurück platze ich fast. Nach dem letzten Abendessen des Tages faste ich freiwillig einen ganzen Tag, denn mein Magen ist einfach viel zu voll.
Das Zuckerfest ist eine einzigartige und schöne Erfahrung für mich, die ich sehr genieße und ich hoffe dass einige meiner neuen Freunde uns einmal zu Weihnachten besuchen und ein ähnlich schönes Erlebnis haben.
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