Von Zhaotong nach Kunming
Wir fahren erst mittags in Zhaotong los. Der Vortag war einfach zu anstrengend. Nach 28 Kilometern bergauf erwartet uns eine Überraschung: eine zwanzig Kilometer lange Abfahrt! Ich ziehe alles an, was ich finde und genieße die Fahrt. Die LKW-Fahrer gucken verdutzt zu uns herüber. Überholen brauchen sie uns nicht, denn wir sind genauso schnell wie sie. Tränen laufen mir von den Augen zu den Ohren, als wir von Brücke zu Brücke sausen. Der Fahrtwind treibt sie aus den Augenwinkeln. Das haben wir uns verdient!
Wir lassen Wasserfälle, Bambus und Schneewehen hinter uns und radeln durch Maisfelder, Spinat, Kohl und Salatfelder und Mischwäldchen. Seitdem wir auf der Schnellstraße radeln sehen wir die Dörfer nur noch von außen, denn die Leitplanke und diverse Zäune trennen sie von der Außenwelt ab. Am Abend finden wir ein Loch und quetschen uns hindurch in ein winziges Dorf.
Eine Frau mit einem kleinen Baby auf dem Rücken erlaubt uns, das Zelt auf ihrem abgemähten Maisfeld aufzuschlagen. Es dauert keine drei Minuten, bis alle Einwohner des Dorfes sich um uns herum versammelt haben.
Die Kinder fragen uns Löcher in den Bauch, die Jugendlichen tuscheln und die Erwachsenen beobachten unser treiben. Als das Zelt steht, lade ich die Kleinen ein – in Null-Komma-Nix toben alle Einwohner unter 12 Jahren durch unser Innenzelt.
Eine Nachbarin bringt uns einen tragbaren Kohleofen und wir grillen die übrigen Pommes vom Vortag und bringen den Kindern die Zahlen auf Spanisch und Deutsch bei.
Früh geht es am nächsten Morgen weiter. Es ist etwas wärmer, denn wir radeln mal wieder bergauf. Nadelbäume häufen sich auf unserer Linken und schneebedeckte Bergspitzen auf unserer Rechten. Die Dörfer unter uns wirken wie aus dem Flugzeugfenster.
ir müssen auf knapp 3000 Höhenmetern gewesen sein, als das erlösende Schild näher kommt: „Achtung, lange Abfahrt von 82 Kilometern“. Wir können es kaum fassen und feiern unser Glück mit dem letzten Proviant: zwei Äpfeln.
So eine lange Abfahrt hatten wir noch nie. Ich ziehe zwei Paar Handschuhe übereinander und beschließe alle 15 bis 20 Kilometer anzuhalten, um die Bremsen abkühlen zu lassen. Als wir losradeln, entdecke ich ein kleines aber vielbedeutendes Komma im Schild. So schnell werden aus 82 Kilometern 8,2.
Die Straße verwandelt sich in eine Autobahn mit breitem Seitenstreifen. Viele Brücken und Tunnel machen die bergige Landschaft erträglicher. Nach knapp 100 Kilometern finden wir gleich hinter der Abfahrt ein Zimmer für die Nacht. Das Dorf selbst ist zwar grau, staubig und nicht sonderlich einladend, aber der Preis für ein sauberes Zimmer mit Bad und ein ausgiebiges Abendessen für zwei ausgehungerte Radler ist mit knapp 10 € unschlagbar.
Am nächsten Morgen scheint die Sonne so stark, dass ich im T-Shirt mein Rad bepacke. Von jetzt an haben wir die Berge hinter uns, versicherte uns am Vortag ein Tankstellenwart.
„Nur noch flach und bergab!“. Das Türkei-Phänomen scheint auch international zuzutreffen. Auch dort brachte es niemand übers Herz, den müden Radlern von dem steilen Anstieg zu erzählen. „Ganz flach“, hörten wir dort jeden Tag, während wir uns die Berge hinauf quälten.
Nach 18 Kilometern erlöst uns ein Tunnel. Die vier Kilometer Abfahrt genießen wir allerdings kaum, denn der Gegenwind ist mittlerweile so stark, dass wir trotzdem strampeln müssen. Ein zweiter Tunnel folgt. Ich knipse das Licht an und trete in die Pedale. Je schneller ich fahre umso früher ist der unbelüftete Tunnel geschafft.
Als der erste Autofahrer uns überholt, bemerke ich, dass die Batterien des Vorderlichts nachgelassen haben. Nach zehn Sekunden ist das Licht ganz aus. Es ist stockdunkel und die Sicht beträgt Null. Ich will rechts ranfahren, aber da ich nichts sehe, weiß ich nicht, wo die Wand des Tunnels ist. Unerwartete Schlaglöcher schütteln mich und mein Rad durch und erst als uns endlich ein LKW mit Licht entgegenkommt bemerke ich, dass ich mich auf der linken Fahrspur befinde. Ich habe Angst, gegen die Wand zu prallen oder in einem Loch in der Straße zu versinken und schleiche vor mich hin, bis ich wieder die Scheinwerfer eines anderen Autos nutzen kann. Roberto kann hinter mir nur die Reflektoren meiner Fahrradtaschen erkennen, besonders gut kann er sich mit diesen auch nicht orientieren.
Ich bin heilfroh als der 700 Meter lange Tunnel hinter uns liegt, fahre rechts lang und muss mich erst einmal setzen und beruhigen.
Meine Laune ist mies. Gegen Anstiege, Gegenwind und düstere Tunnel hilft nicht einmal der strahlende Sonnenschein. Erst als wir ein türkises Reservoir erkennen das eine Weile parallel zur Straße verläuft, fange ich mich wieder. Der Blick ist einfach zu schön, um grimmig zu sein.
Abends finden wir wieder ein Loch in der Leitplanke und dem Stacheldrahtzaun dahinter und schleichen in ein weiteres Dorf. Eine Familie winkt uns zu, wir fragen nach einem Zeltplatz und werden sofort zum drinnen schlafen eingeladen.
Die vier Kinder kriegen nicht genug davon, fotografiert zu werden, die alten Männer sehen neugierig herüber, lassen sich aber nichts anmerken und die Frauen fragen uns aus. Wir werden zum Abendessen ins Lehmhaus eingeladen. Es gibt sieben verschiedene Gerichte von denen wir nicht genug kriegen können und dazu grünen Schnaps, der aus einem Benzinkanister serviert wird.
Die älteste Frau und ich tanzen zu einem Lied das wie „Shampoo Shan“ klingt durch den Raum, ich füttere den Kleinsten mit Erdnüssen und filme die beiden Mädchen, denen ihre Mutter einen westlichen Tanz beigebracht haben. Sie haben sich selbst vorher nie beim Tanzen sehen können.
Nach dem Essen gibt es Tee und Sonnenblumenkerne, ich flechte die Haare der Mädchen ein und um 23 Uhr schlafen Roberto und ich fast auf dem Sofa ein. Eine Frau bereitet uns einen Eimer warmen Wassers zum Füße waschen, bevor wir in die Federn hüpfen. Ich schlafe im Frauenzimmer und Roberto in einem einzelnen Bett.
Am nächsten Morgen ist es wieder grau und feucht draußen. Wir treten fest in die Pedalen und machen die erste Pause erst nach fast 50 Kilometern. Über 100 Kilometer schaffen wir an diesem Tag und als wir ankommen ist es gerade einmal nachmittags. Für die erste Nacht checken wir in einem Hostel ein. Um uns herum wimmelt es von anderen Ausländern. So viele Touristen haben wir schon lange nicht mehr gesehen. Plötzlich ist unser Englisch wieder von nütze.
Am nächsten Morgen müssen wir um 12 Uhr auschecken. Das Hostel ist für die folgenden Tage ausgebucht. Bei Couchsurfing hat uns niemand geantwortet und wir wissen nicht so recht wohin, bis wir die Telefonnummer von Karina bei Couchsurfing entdecken und sie anrufen.
Karina erklärt, dass wir gerne bei ihr unterkommen können, aber dass sie selbst den Tag über beschäftigt sei.
„Sollen wir besser am Abend kommen?“, fragt Roberto
„Hmmm“, antwortet Karina, „Sag mal, hat Annika vielleicht Lust auf einen Modeljob?“
„Was für eine Art Modeljob?“, hakt Roberto skeptisch nach.
„Nichts Besonderes. Einfach mit einem netten Kleid neuen Wein präsentieren.“
Sie gibt unsere Handynummer der Veranstalterin Lia weiter, die uns sogleich anruft und antreibt, so schnell es irgendwie möglich ist, herzukommen, sie brauche noch genau ein Model mehr. Wir erklären ihr, dass ich nur 1,62 Meter groß bin und nicht gerade mit Modelmaßen ausgestattet, aber das interessiert sie nicht.
Eine Viertelstunde später sitzen wir gemeinsam mit 11 anderen Ausländern ohne Modelmaßen und ein paar Chinesen in einem Bus, der uns fünf Stunden lang durchschüttelt. Endlich lerne ich Karina kennen und erfahre, was das mit diesem Modeljob auf sich hat.
Ausländer sind in den kleineren Städten Chinas rar und viele Veranstalter, heuern ein paar Ausländer an, um ihren Produkten Wert zu geben. Ein Kanadier in unserem Team arbeitet nebenher in einem Restaurant, in dem er nichts tut, als sich mit Kochkleidung im Speisebereich blicken zu lassen, damit die Gäste denken, ein Ausländer habe sie bekocht. Manche Firmen buchen Ausländer, um sie zu Geschäftsessen zu begleiten, denn sie hoffen, dass sie andere Seite ihre Firma für wichtiger hält, immerhin haben sie sich ja einen Ausländer geangelt. Um einen Job in China zu finden braucht es nicht viel mehr als eine lange Nase, helle Haut und bestenfalls auch helles Haar.
Wir werden schick zum Essen ausgeführt, bekommen so viele Gerichte, dass sie in der Mitte des Tisches schon gestapelt werden müssen – darunter Shrimps und Ente.
Mia hat einen Sack Kleider mitgebracht und jede sucht sich eines, das ihr passt. Da ich weder hohe Schuhe noch Make-up dabei habe, schminkt Lia mich (am Ende habe ich rotbraune Augenbrauen) und tauscht ihre Schuhe mit mir. Sie verbringt den Rest des Abends in meinen staubig-matschigen Trekkingschuhen. Wir stellen uns eine halbe Stunde lang in den Eingang und lassen die Leute Fotos mit uns machen, dann drehen wir ein paar Runden mit verschiedenen Weinsorten in der Hand auf dem Catwalk. Dass ich so etwas noch nie gemacht habe, interessiert niemanden. „Machs einfach den anderen nach, los jetzt“, ruft Mia und schon laufe ich Runde um Runde, grinse, pose und fühle mich für einen Moment unglaublich wichtig. Roberto wird als offizieller Fotograf des Abends befördert und scheucht „seine“ Models hin und her. Anschließend können wir uns am Buffet bedienen und so viel Wein trinken wie wir wollen. Wie sich das für echte Models gehört, putzen wir das Buffet in Windeseile leer. Um drei Uhr morgens kommen wir wieder in Kunming an. So hatte ich mir den ersten ganzen Tag in Kunming nicht vorgestellt.
Da unsere Sachen noch im Hostel lagern, verbringen wir die Nacht bei unserer neuen Freundin Aude aus Spanien, die uns am nächsten Morgen zum Frühstücken aufs Dach des Nachbarhauses führt. Die Aussicht ist grandios, die Sonne scheint und die geschenkte Flasche Wein vom Vortag schmeckt auch schon am Morgen. Den Abend verbringen wir bei unserm Modelfreund Michael aus den USA, der leichtsinnigerweise anbot, dass wir unsere Wäsche bei ihm waschen könnten. Dass dabei 2 ½ Maschinen Klamotten herauskommen, war ihm wohl nicht klar. Die Nacht verbringen wir bei Karina aus Russland. Gemeinsam mit ihrem Freund Peter leitet sie eine besondere Wohnung. Bezahlt wird sie von AVT, einer Organisation für „freies Reisen“, die von Anton Krotov, einem russischen Anhalterfahrer gegründet wurde. Er eröffnet immer wieder sogenannte „freie Häuser“, die Reisenden aus aller Herren Länder offen stehen. Bad und Dusche sind eingerichtet, an den Wänden hängen Landkarten, russische Hinweisschilder und Postkarten anderer Reisender. Möbel gibt es keine. Isomatten und Schlafsäcke muss jeder selbst mitbringen.
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