Eine wichtige Schleife

Linz und Wien, Österreich, Oktober 2011

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Im Europa Bierstadl in Linz ist es heiß. Es riecht nach Pommes, Bier und verbrauchter Luft. Es ist Oktoberfestzeit und überall in Deutschland und Österreich wird in Bierzelten gefeiert. Die Edlseer spielen österreichische Schlager und Volksmusik. Im Zelt sind die Bierbänke gefüllt mit schunkelnden Menschen. Sie singen laut „Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!“, und prosten sich anschließend zu. Wir versuchen, einen Stehplatz zu ergattern, da kommt uns eine der Kellnerinnen entgegen. Vier Maß Bier trägt sie in jeder Hand und schlängelt sich gekonnt an uns vorbei durch die vollgestopften Reihen. Traditionell sieht sie dabei aus, heimatverbunden und elegant. Sie trägt schließlich ein Dirndl. Für das Personal ist das traditionell österreichische Kleidungsstück Pflicht, aber auch viele Gäste tragen Tracht. „Das gehört mittlerweile einfach dazu im Bierzelt“, erklärt Hans aus Linz, der außer der Lederhose noch einen Lederhut trägt. „Man kann sich figurbetont anziehen, ohne dabei billig auszusehen“, freut sich Tanja und rückt sich den tiefen Ausschnitt zurecht. Die Tracht findet den Weg zurück in den Alltag.

Ursprünglich waren Dirndl und Lederhosen die Kleidung der Bauern, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachten. Für die Frauen gab es eine kurze Bluse, darüber ein tief ausgeschnittenes langes Kleid mit ab der Taille ausgestelltem Rock und darüber eine Schürze, die das Kleid schonte. Männer trugen bestickte kurze Lederhosen mit ledernen, verzierten Hosenträgern, ein Hemd und je nach Region Kniestrümpfe und einen ledernen Hut. Zu besonderen Anlässen gab es edlere Stoffe mit aufwändigeren Verzierungen. Das Design wechselte mit den verschiedenen Herrschern und Königen der jeweiligen Region. Zunächst war die Bauerntracht in grau und braun gehalten, zum Mittelalter gab es dann farbenfrohere Kleidung, später schwarz, wie die spanische Hoftracht, anschließend wieder bunt.

Traditionell unterscheidet sich die Tracht je nach Region und Anlass. Kurze Lederhosen für die Arbeit im Freien und Kniebund als Festtagshose, edle Dirndl für besondere Anlässe, einfache für den Alltag. Die Schleife am Dirndl war früher besonders für die Männer ein wichtiges Accessoire. Traditionell zeigt die Trägerin mit ihr ihren Familienstand an. Wer seine Schleife links bindet ist noch zu haben, rechts binden sie verheiratete und vergebene Frauen. In manchen Gegenden symbolisiert eine hinten gebundene Schleife dass die Trägerin Witwe ist und vorne binden sie die Jungfrauen.

Das Dirndl und die Lederhose waren vor einigen Jahren nur Alltagskleidung für „Randgruppen“, so Sascha Goitschek, der Geschäftsführer des Salzburger Trachtenoutlets in Wien in unserem Interview. In der bayrischen und österreichischen Gastronomie sowie in Trachten- und Heimatvereinen waren sie selbstverständlich, in ländlichen Gegenden zu bestimmten Anlässen ebenfalls, ansonsten gerieten sie in Vergessenheit. Nun lebt das Trachtenfieber wieder auf. Das sieht man auch im Inneren des Trachtenoutlets, wo sowohl Wiener als auch Touristen Lederjacken, Dirndl und Blusen anprobieren.

Besonders junge Menschen, die sich jahrelang nicht für die ursprüngliche Tracht begeistern konnten, zeigen jetzt stolz mit Mustern bestickte Schürzen, Kniebundhosen und Karohemden auf der Straße und im Bierzelt. Was zunächst nach wiedergefundener Heimatverbundenheit aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Modeerscheinung. Die Kultur und die Traditionen werden kaum beachtet, dafür nimmt die Mode einen hohen Stellenwert an. Erlaubt ist, was eben gefällt. Lederhosen gehen auch ohne Hosenträger, Dirndl werden kurz getragen und Blusen mit Puffärmeln werden mit kurzen Röcken kombiniert. Für Galas und Geschäftsessen werden spezielle Trachtenkostüme hergestellt. Im Trachtenoutlet gibt es sowohl Beratung zu traditioneller Tracht als auch modische Tipps zum kombinieren mit Alltagskleidung.

Im Bierzelt in Linz werden sie dann stolz präsentiert: kunterbunte Dirndl-Schürzen, kunstvoll verzierte lederne Hosenträger und tief ausgeschnittene Blusen mit tiefer ausgeschnittenen Kleidern darüber. Die Tradition mit der Schleife hat sich nicht überall durchgesetzt und ist besonders bei den jüngeren Generationen längst in Vergessenheit geraten. Heutzutage sollten Männer nicht mehr darauf vertrauen, dass die Fünfzigjährige mit der Schleife vorn wirklich noch Jungfrau ist. Wir sehen Dirndl ohne Schleifen, mit einer auf jeder Seite und Dirndlblusen kombiniert mit Jeans. Lederhosen, die es traditionell nur als kurze oder knielange Version gibt, sind längst auch als lange Hosen für den Alltag oder das Bierzelt erhältlich. Speckige durchgetragene Lederhosen gibt es kaum, dafür umso mehr nagelneue Hosen, die wenige Male im Jahr aus dem Schrank geholt werden. Doch es gibt auch noch echte Trachtenfans wie Sacha Goitschek. „Wenn ich eingeladen werde komme ich zu 99 Prozent in Tracht“. Schlaghosen kamen wieder und ebenso Leggins. Ich bin sicher, dass sich bayrische und österreichische Großmütter freuen, ihre Enkelinnen im Alltag im Dirndl zu sehen.

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