Bigz

Das Bigz bei Tageslicht

Belgrad, Serbien, November 2011

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Normalerweise schlafen wir schon bei Sonnenuntergang, denn ohne Licht ist es im Zelt langweilig. An diesem Tag verlassen wir nachts um 23 Uhr erst das Haus. Wir, das sind Jordan, unser US-amerikanischer Couchsurfinghost, ihre Freundin Neža, zwei andere Couchsurfer und wir beiden. Nach fünfzehn Minuten stehen wir vor einem riesigen alten Gebäude. „Wir sind da“, grinst Jordan, „das ist das Bigz.“.

Musiker auf dem Weg in ihr Studio

Schon tags zuvor hatte Jordan von der Mischung aus Fabrik und Jazzclub geschwärmt. Wir öffnen eine beklebte Glastür und stehen in einem großen und dunklen Foyer. Jordan biegt links ab und steuert auf den Aufzug zu. Sie drückt den Knopf und hält ihr Ohr gegen die Wand. „Ich glaube, heute funktioniert er“, freut sie sich. Wir quetschen uns hinein und Jordan drückt zwei Knöpfe gleichzeitig, um den Aufzug in Bewegung zu setzen. „Es gibt keine Tür, also bleibt da lieber weg“, warnt sie uns beiläufig als der Auszug sich in Bewegung setzt. Der Boden quietscht und rumpelt und ich finde es gruselig, denn das Gebäude stammt aus den End-30ern, ebenso wie der Aufzug. Renoviert wurde dort nie.

Errichtet wurde das Gebäude für eine Pressedruckerei namens Bigz. Die meisten Stockwerke gehören weiterhin Bigz, doch Zeitungen werden dort nicht mehr gedruckt. Es gibt Designstudios und alte Büros in den unteren Stockwerken und Ateliers, Proberäume und eine Bar in den Oberen.

Im Aufzug ist es kalt und dunkel. Im sechsten Stock halten wir an Ein paar junge Leute tummeln sich im Korridor, trinken ihr mitgebrachtes Bier, rauchen und unterhalten sich. Jemand überredet Roberto, ein Portrait von Emiliano Zapata auf einen großen weißen Luftballon zu malen.

Oliver hängt auch viel in den Korridoren der oberen Stücke herum. Den 26-jährigen haben wir am folgenden Tag in seinem Studio kennen gelernt. Er spielt Keyboard und elektrische Orgel in einer alternative-rock-Band namens Kriške (bei facebook: http://www.facebook.com/kriskeband?sk=info).

Oliver in seinem Studio

„Eigentlich spielen wir Post-punk-noisy-psychedelic-post-rock“, erklärt Oliver. Mit vier anderen Bands teilt sich Kriške ein mittleres Studio, jedes Bandmitglied zahlt dafür 1500 Dinar (15 €) monatlich. Für Künstler gibt es kleinere Studios die als Atelier genutzt werden können und die Capoeira-Schule und der Zirkus haben die ganz großen Studios gemietet. Einmal lief Oliver betrunken durch die unteren Stockwerke des nachts gruseligen Gebäudes und fand sich selbst in einem der alten Büros wieder. An der Wand hing ein „Tito-our-great-leader“-Poster und auf dem Schreibtisch allerlei alter Akten. „Das ist alles jahrelang unberührt gewesen, ich konnte mir die Rechnungen ansehen, all die wichtigen Papiere und es war schon sehr seltsam.“ Nüchtern hat Oliver das Büro nie wiedergefunden.

Wir gehen noch einen Stock rauf zum Jazzclub. Es wird voller und das kalte, unfreundliche Gebäude verwandelt sich mit der Menge der Leute in einen warmen und einladenden Ort. Die Band beginnt und die Zuhörer wippen ein wenig. Der große weiße Luftballon mit der Zapato-Skizze fliegt durch die Luft. Alle schubsen ihn weiter, bis er schließlich mit einem lauten „Peng“ platzt.

Wir suchen uns einen kleinen Tisch gleich neben dem großen Fenster. Der Blick hinab in die Stadt, auf den Fluss und auf die Brücke ist atemberaubend. Weiter oben gibt es noch ein höheres Dach und Oliver ist sicher: „Dort kannst du morgens um eins hingehen mit Mädchen und Bier und du kannst singen und tanzen und niemand kümmert sich darum. Das geht sonst nirgendwo.“

Nach ein paar Liedern verlassen wir die warme, rauchige Bar namens „Cekaonica“ und gehen zurück in den kalten Korridor.

Nachts ist es gruselig in den vollgesprühten Gängen, doch Tagsüber verwandelt sich alles Gruselige in Kunst.

Die Wände sind mit Graffiti bemalt und auf dem Boden liegen leere Bierdosen. Einen Stock tiefer hören wir Post-rock-Musik. Wir betreten das kleine Studio, aus dem die Musik kommt und sehen eine Band und ein paar Zuschauer. Ein Bartträger im schwarzen Kapuzenpulli schüttelt seine lange Mähne. Eine Jugendliche mit zahnspangen tanzt für einen Moment. Als sie merkt, dass sie die einzige Tänzerin ist, verschwindet sie schnell wieder. Jemand schnappt sich einen Hocker. setzt sich neben den Trommler, gibt ihm die Hand und steigt mitten im Lied mit seiner eigenen kleinen Trommel ein. Irgendjemand reicht ihm ein Mikrofon. Dann schnappt sich ein blonder junger Mann das Mikrofon und beginnt zu singen. Ich frage mich ob es sich um eine organisierte Band handelt oder ob hier jeder mitmachen kann. Was wäre wenn ich mich jetzt einfach auf die Bühne setzen und auf meine Oberschenkel klatschen würde? Der Sänger singt lauter und läuft mit dem Mikrofon durch das Studio. Da nutzt jemand seine Chance, schnappt sich den frei gewordenen Hocker und klatscht auf die Oberschenkel. Niemand wundert sich darüber.

Irgendwo im dritten Stock

„Hier kommen allerlei Künstler zusammen“, erklärt Oliver am nächsten Tag. „Früher, als ich noch nicht bei Kriške gespielt habe, bin ich oft gekommen, um Kunstausstellungen anzusehen oder kleine inoffizielle Konzerte zu besuchen.“. Immer mal wieder verbreitet sich das Gerücht, dass der Besitzer das Bigz verkaufen und alle Künstler rausschmeißen will. „Aber in den fünf Jahren die ich bereits hier bin, ist das nie passiert.“, kichert Oliver fröhlich.

Viele junge Belgrader sind kreativ. Oliver schätzt dass unter den jungen Einwohnern etwas 80-90% Musiker, Designer, Künstler, Dichter und andere Kreative sind.

Daher ist das Bigz auch so beliebt, auch wenn man ihm von außen nicht ansieht, was es ist, braucht es keine Werbung. Es gibt immer jemanden, der jemanden kennt, der es einem zeigt, genau wie Jordan für uns.

Wir gehen zurück zum Aufzug. Roberto, Neža und ich sind müde. Auf dem Weg treffen wir auf einen großen Mann, der einen kleinen Mann über seiner Schulter trägt.

Oliver zeigt mir sein Studio

Der kleine Mann grinst uns an, er ist so betrunken, dass er die Augen kaum noch öffnen kann. Dabei spielt er mit Drumsticks auf dem Rücken des großen Mannes. Ob er wohl bei einem der Konzerte mitgewirkt hat?

Draußen in der kalten Nacht drehe ich mich noch einmal um und kann nicht glauben, wie viele kreative Talente sich hier täglich treffen. Ich bin sicher, gerade sitzt auch jemand auf dem Dach, singt, tanzt und trinkt Bier mit ein paar Mädchen.

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